Was Du nicht willst, das man Dir tut ...
Weinend saß die junge Blondine auf dem Klodeckel. Das Make-up komplett verlaufen, sah sie wegen der verschmierten Mascara wie ein trauriger Clown aus. Josh hämmerte gegen die Badezimmertür und schrie fortwährend, sie solle die verdammte Tür aufmachen oder er würde sie eintreten. Sie hörte die Sirenen einer Polizeistreife draußen jaulen, aber die kam ganz bestimmt nicht ihretwegen. Die kam nur noch, wenn zufällig Beamte Dienst hatten, die sie und Josh nicht kannten. „Mach die scheiß Tür auf, Bitch!“ Mein Gott, sein Gebrüll musste doch in der gesamten Straße zu hören sein. Aber das juckte hier sowieso keinen mehr. Anfangs als sie hier neu eingezogen waren, riefen Nachbarn Hilfe und klopften sogar an Türe. Damit war schon lange Schluss. Einmal sagte Miss Bakerman beim Bäcker zu ihr, dass sie selber schuld sei. Andere Frauen wären schon lange gegangen. „Aber Sie … Sie brauchen das wohl“, sagte Miss Bakerman gehässig und wandte sich wieder ihren Einkäufen zu. Alle Augen starrten sie und sie hatte sich noch in ihrem Leben so geschämt. Krachend flog die Klotür auf und Josh starrte sie mit blutunterlaufenen Augen an. „Warum machst du die Tür nicht auf, hä?“ Mit drei Schritten war er bei ihr und zog sie an den langen blonden Haaren von der Kloschüssel herunter. Sie prallte mit den Knien auf den harten, weiß gefliesten Boden und stieß einen spitzen Schrei aus. Der wurde wiederum mit einem Faustschlag gegen ihren Mund quittiert. Blut rann ihr das Kinn hinunter in den Mund und der metallene Geschmack war ihr längst vertraut. Er will doch jetzt nicht, … dachte sie panisch. Und ob er wollte. Er wollte sie an den Haaren die Treppe hinunter in die Küche zerren, wo das Corpus Delikti auf dem Tisch stand. Ein Braten, leider nur verkohlt. Sie hatte ihn völlig vergessen aus der Röhre zu nehmen, weil sie mit ihrer Mutter telefonierte. Die alte Dame war leicht dement und so war ein Telefongespräch mit ihr immer eine langwierige Angelegenheit. Als Josh dann nachhause kam, hatte sie grade aufgelegt und quasi beide hatten im selben Moment den Geruch nach angebranntem Fleisch erschnüffelt. Ihr sank das Herz in die Kniekehlen und hoffte inbrünstig, dass er nicht getrunken hatte. Er hatte. Deshalb lag sie jetzt im Badezimmer, das Gesicht blutverschmiert und das linke Auge war knallrot zu geschwollen und dabei, die Treppe an den Haaren hinunter gezerrt zu werden. Sie machte sich möglichst leicht, indem sie auf ihren Knien mit rutschte. Sich zu wehren war ziemlich bescheuert, denn dann wäre es noch schmerzhafter gewesen. So glitt sie neben ihrem Mann, den Kopf durch seinen harten Griff in ihr langes Haar unnatürlich verrenkt, auf Knien die alte abgenutzte Holztreppe hinunter. Als sie die letzte Stufe genommen hatte, ließ er sie los und zerrte Lilly an den Oberarmen hoch. Dann schubste er sie, grade so wenig, dass sie nur vorwärts taumelte, aber nicht hinfiel. So ging es durch das hübsch eingerichtete Esszimmer, an dem geschmackvoll dekorierten Tisch vorbei in die Küche. Sein Ziel war der Braten, der schwarzbraun immer noch auf dem Ofenblech kauerte. Er packte sie ins Genick und drückte sie so weit hinunter, dass ihre Nasenspitze beinahe das Fleisch berührte und sagte zischend: „Ich arbeite nicht den lieben, langen Tag, um dann abends nichts zu essen zu bekommen. Hast du eine Ahnung, welchen Kohldampf ich habe?“ Dabei schüttelte er ihren Kopf hin und her, um ihn zum Schluss in den Braten zu drücken. Der verkohlte Rücken kratzte an ihrer Wange und ein scharfer Geruch kroch in ihre Nase. „Ich gehe auswärts essen und du solltest duschen, du siehst aus wie ein geschlachtetes Huhn!“ Abrupt ließ er sie los und sie hielt sich krampfhaft an der Tischkante fest, um nicht zu fallen. Mit geschlossenen Augen hörte sie das Klimpern der Autoschlüssel und danach die Haustür ins Schloss fallen. Aufschluchzend angelte sie sich zum nächsten Stuhl und setzte sich wackelig. Ich halte das nicht mehr aus, das heute war der Höhepunkt, ich muss gehen, dachte sie. Lilly fühlte sich fiebrig und ihr ganzer Körper schmerzte. „Nein, das musst du nicht …“, flüsterte eine innere Stimme, „der Drecksack wird sich zum Teufel scheren müssen …“ Über diese Stimme erschrak sie nicht mehr, sie meldete sich in letzter Zeit sehr oft – im Gegensatz zu früher - und der einfach halber hatte die junge Frau ihr den Namen Judy gegeben. „Und wie sollen wir das anstellen? Du weißt, dass er uns in der Hand hat …“, flüsterte Lilly durch ihre geschundenen Lippen. „Na, Schuld bist du doch selber, was musst du auch Schecks fälschen? Ja, ja … ich weiß, Mutter und ihr Pflegeheim, das so teuer ist. Nun … jetzt bist du ganz schön gelackmeiert, was?“ Sie hatte es so oft in Gedanken durchgespielt: so nach dem Film „Der Feind in meinem Bett“ mit Julia Roberts in der Hauptrolle. Einfach den eigenen Tod vortäuschen und untertauchen, nur wusste sie nicht wie sie das anstellen sollte. Sie arbeitete ganz unspektakulär als Krankenschwester hier in im kleinen Provinzkrankenhaus, hatte keine Hobbys (in denen sie „umkommen“, konnte wie die Protagonistin in dem Film). Sie dekorierte gerne das Haus, ja, aber um da tödlich zu verunglücken, brauchte man eine Leiche. Josh hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er sofort die Polizei einschalten und von ihren Betrügereien erzählen wolle, falls sie sich dazu entschließe, abzuhauen. Stöhnend erhob sie sich von dem gelben Küchenstuhl aus Plastik. Sie ging zum Kühlschrank, um sich einen Beutel Eis zu nehmen und auf das bereits dick geschwollene Auge zu legen. Was ein Glück hatte sie Urlaub, sonst wäre wieder eine Krankmeldung fällig gewesen und sie fragte sich, wie lange die Klinikleitung noch die Füße diesbezüglich unter dem Tisch halten würde, jedenfalls nicht mehr lange. Lilly schleppte sich zum Sofa mit den hübschen lila Kissen aus Satin und legte sich vorsichtig hin. Mit dem Eisbeutel auf dem Auge lag sie regungslos auf ihrem Rücken. Alles schmerzte. Ihre Kopfhaut pochte und sie hatte ein Gefühl als stünde sie kurz vor einer schweren Grippe. „Irgendwann hat er dich umgebracht.
Langsam solltest du dir überlegen, was besser ist: unter der Erde zu verrotten oder ein paar Jahre Knast.“ Judy kam immer so unangenehm auf den Punkt. „Das können wir Mama nicht antun und das weißt du genau. Sie hat ja nur noch uns“,nuschelte Lilly. "Sicher, aber … würde Mama es überhaupt bemerken, wenn wir in Sing Sing sitzen würden? Ich meine, telefonieren können wir auch von dort.“ "Du hast aber die Besuche zu ihren Geburtstagen und zu Weihnachten und zu Thanksgiving vergessen.“ "Ach, richtig, stimmt auch wieder.“ „Und wie Doc Heissler meinte, hat sie diese leichte Form von Demenz und es kann Jahre dauern, bis Mama völlig dement ist, Judy. Und sollten wir abhauen, können wir sie auch nicht mehr anrufen, geschweige dann besuchen. Die Polizei hätte uns schneller geschnappt, als wir gucken können.“ „Ich suche nach einer anderen Lösung, Lilly, du solltest jetzt etwas schlafen. Aber werfe vorher den Rinderbraten weg. Wenn er nachhause kommt und das teil liegt immer noch da, fängt das Drama von vorne an.“ „Und wieder hast du völlig recht, Judy Baby …“
Ein lautes Poltern ließ sie aus dem Schlaf hochschrecken. Ihr Blick streifte kurz den Radiowecker. Es war kurz vor drei Uhr morgens und ein Schrecken durchfuhr sie heiß. Josh war zurück und das Poltern bedeutete, dass er schwer getankt hatte. Gleichzeitig beruhigte sie sich, denn das hieß auch, dass er nicht mehr die Koordination dazu hatte, sie durch das Haus zu prügeln. Mühsam schälte sie sich aus den Decken und stand auf. Sie wollte sicherheitshalber nachsehen, wieso es so gerumpelt hatte. Vielleicht war es ja auch ein Einbrecher, man wusste ja nie heutzutage. Leise schlich sie zur Schlafzimmertür und erkannte durch deren kleinem Milchglasfenster, dass Licht brannte. Ein Einbrecher machte wohl kaum eine Lampe an und so wollte sie zurück in das Bett krabbeln, als Judy wisperte: „Halt, nicht so schnell, sieh’ doch mal nach“. „Was soll ich denn nachsehen? Ich will dem am besten heute nicht mehr unter die Augen treten.“ „Trotzdem, guck nach, vielleicht ist er ja verletzt und braucht Hilfe.“ Irgendwie klang Judy jetzt verschlagen. „Und wenn schon, meinst du ich verarzte diesen Bastard noch, als Dankeschön sozusagen? Vergiss’ es!“, antwortete die junge Frau in Gedanken. „Geh schon!“, befahl Judy. Widerwillig öffnete Lilly die Tür und ging auf Zehenspitzen den Korridor zur Treppe hin. Am hölzernen, geschnitzten Geländer, welches das obere Stockwerk sicherte, hielt sie sich fest. Dann hörte sie ein Stöhnen und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Er hatte tatsächlich etwas. Am oberen Ende der Treppe angekommen riskierte sie einen Blick nach unten und tatsächlich, dort saß Josh auf dem Boden und hielt sich den Kopf. Sie sah eine rote Flüssigkeit die einen immer größer Fleck auf sein hellgrünes Hemd malte. „Siehst du!“, rief Judy triumphierend. „Und? Was soll ich denn jetzt machen? Ich helfe ihm nicht!“ Lilly klang hasserfüllt. „Aber wer spricht den von Helfen, Liebes?“, ihre Freundin, die sie seit ihrer Schulzeit begleitete, klang spöttisch. „Mach dem ganzen Desaster ein Ende …“ „Wie meinst du das?“ „Der schwere Kristallleuchter, der im Bad steht … Hol ihn!“ In Lilly kroch blankes Entsetzen hoch als sie ahnte, was Judy eigentlich von ihr wollte. „Bist du bescheuert, ich soll ihn umbringen?“ "Nein, wer sagt das denn? Du sollst eben nur das vollenden, was er von alleine nicht geschafft hat …“, Judy kicherte. „Schau, für uns ist das wirklich das Beste. Nie mehr Schläge, nie mehr Erniedrigung und unsere kleinen Mauscheleien mit seinen Schecks sind dann sicher bei ihm aufgehoben, er kann sie nicht mehr ausplaudern. Sei doch nicht so doof, Mädel, so eine Gelegenheit bekommst du nicht mehr so schnell. Und! Du könntest Mama nach Hause holen, anstatt sie im Heim vergammeln zu lassen, denn seine Zustimmung brauchst du dann nicht mehr.“Je länger Judy sprach, desto mehr überzeugte sie Lilly. Es war wirklich eine einmalige Chance frei zu werden, von allem. Und es war ja eigentlich auch gar nicht schwer. Eins, zwei Schläge und dann etwas putzen und die Polizei ganz aufgelöst rufen. „Aber nein! Du wirst nicht putzen! Mach jetzt genau, was ich dir sage. Du brauchst nur meinen Anweisungen zu folgen und jetzt geh endlich und hole den verdammten Leuchter!“ Wie immer konnte sie sich nicht der inneren Stimme widersetzen und ging zittrig in das Badezimmer. Dort stand der Leuchter. Eine schmiedeeiserne Handarbeit. Drei Schlangen ineinander geschlungen und die Köpfe dienten als Kerzenhalter. Eines ihrer Lieblingsstücke. Sie nahm ihn auf und stöhnte kurz, denn ihre rechte Hand hatte auch etwas von der Schläge Joshs abbekommen. Bestimmt das Handgelenk gestaucht, dachte sie. „Dann haust du eben mit links zu und jetzt beeil dich! Wenn er wieder aufsteht ist diese einmalige Chance vorbei!“, dränge Judy. Sie wechselte den Kerzenhalter in die linke Hand und ging zur obersten Stufe der Treppe. In der Tat, Josh hatte sein Bewusstsein verloren und lag unten am ersten Treppenabsatz. Ihr schlotterten die Knie, ein Schluchzen drückte ihre Kehle zu und sie sagte sich, dass sie dazu doch absolut nicht imstande war. „Muss ich immer alles selbst machen, blöde Kuh?“ Judy war jetzt sauer und ein Ruck ging durch Lilly. Schlagartig wurden ihr Gesichtszug hart und ein kaltes Funkeln glitzerten in ihren sonst so warmen Augen. So, als habe sie keinerlei Schmerzen, nahm sie entschlossen eine Stufe nach der anderen und kam schließlich bei Josh an. Kalt blickte sie zu ihm hinunter. An seinem Hinterkopf klaffte eine breite Wunde, die immer noch blutete. Sein scharfkantiges, attraktives Gesicht mit dem sexy Grübchen im Kinn war bleich, die hellgrauen Augen mit einem schwarzen Kranz aus dichten Wimpern umrandet, geschlossen. Das dunkle Haar fiel im wirr in die Stirn. „Na also“, flüsterte Judy, „die Wunde ist eine optimale Vorlage und ein super Zielpunkt …“ „Bitte, Judy, tu es nicht!“, flehte Lilly, aber da war es dann auch schon zu spät. Judy hob den Arm und schlug mit aller Kraft zu. Das Blut spritze gegen die Blümchentapete, in Lillys Gesicht und eine grau rosa Masse trat aus der Wunde die jetzt doppelt so groß in Joshs Kopf gegraben hatte. Schlagartig bekam Lilly wieder Oberhand und übergab sich auf die graue Stoffhose von Josh. Sie blieb einige Zeit auf ihren Knien so neben ihrer einstigen großen Liebe liegen und atmete keuchend. Dann endlich erhob sie sich langsam. Sie zitterte so sehr, dass ihr ganzer Kopf mit wackelte. „Judy und jetzt?“. Aber die gab keine Antwort. „Judy?“ Nichts. Dann schrie sie laut auf: “Judy?“ Lilly war fassungslos. Dieses Mal hatte sich ihre Freundin im ungünstigsten Moment zurückgezogen. Was sollte sie jetzt tun? Fieberhaft dachte sie nach und entschloss sich … nichts zu tun. Sie dachte an den Whisky in der Hausbar und ging hin, um sich gleich die Flasche an den Hals zu setzen. Drei große Schlucke trank sie und die anfängliche Übelkeit wich. Gleich nochmal, dachte sie und setzte die Flasche erneut an. Dann begab sie sich zum Korridor, den Whisky nahm sie bequemerweise gleich mit, dorthin wo ihr Traummann im Blut, Erbrochenem und Hirnmasse lag. Sie ließ sich neben ihn plumpsen und prostete ihm zu. „Zum Wohl, altes Arschloch …“ und nahm erneut einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Einige Zeit blieb sie so sitzen oder waren es Stunden? Dann torkelte sie zur Haustür, öffnete diese und ließ sie einen Spaltbreit offen. Sie ging sich das Telefon holen und setzte sich wieder neben ihren toten Mann. Anschließend wählte sie den Notruf und lallte in den Hörer: „Judy und ich haben den Bastard erledigt. Mit dem Kommen können Sie sich, wie immer Zeit lassen, aber eigentlich wäre es uns lieber … Sie kommen gar nicht, so wie immer …“
Die Uhr
Er bummelte unschlüssig an diesem
Stand mit all dem Gerümpel aus längst vergangenen Tagen herum. Die
Menschen bahnten sich ihren Weg durch die engen Gassen des
Flohmarktes. Wie Ameisen bahnten sie sich einen Weg, man wühlte sich
eben durch, hie und da bekam er einen unbeabsichtigten Rempler und er
dachte genervt daran, dass es den Menschen wohl nicht reiche, unter
Woche die Fußgängerzonen zu überfüllen, nein, sie mussten auch
noch sonntags hinausströmen, um ihr sauer verdientes Geld los zu
werden. Er betrachtete ein alten Nudelsieb aus Emaille und fand, dass
es irgendwie Charme besaß. Dann nahm er einen alten Fotoapparat auf
und stellte ihn sich gedanklich auf seiner Fensterbank im Wohnzimmer
vor. Naja, Wohnzimmer war zu viel des Guten, eher eine kleine
Wohnküche. Er überlegte, ob er sich das Ding kaufen solle, als sein
Blick auf einen goldglänzenden Gegenstand fiel. Was war das? Eine
Taschenuhr! Sie besaß einen Deckel auf dem eine Jagdszene
eingraviert war. Ein Hirsch verfolgt von einer Meute Dackel und zwei
Jäger zu Pferd. Dazu kam noch eine hübsch gearbeitete goldene
Kette. Er ließ sie aufspringen und blickte auf ein eigenartig
bläulich schimmerndes Zifferblatt und römische Ziffern. Richtig
schön, dachte er und erkundigte sich zum Preis. Der Verkäufer, ein
alter ungepflegter Mann ohne Zähne – dafür mit vielen
Pockennarben im Gesicht, nannte ihm den Preis und der löste Freude
in seinem Herzen aus. Fantastisch, die Uhr war spottbillig und er
schlug ein. Fast andächtig steckte er sie in seine Jackentasche und
eilte nach Hause. Er lebte in einer dunklen, kleinen Kellerwohnung
mit Gittern vor den Fenstern. Was ihn nicht weiter störte, denn er
hatte jahrelang auf der Straße gewohnt. Viel Elend hatte er gesehen
und so kam ihm die Wohnung wie eine Luxusbude vor. Er schloss die
Haustür auf, durch querte die Flur und zog seine schäbige Jacke
aus, um sie wieder in den Flur zu bringen. Hansi hängte sie an
einen Nagel der als Garderobe diente, nachlässig auf ... Wieder halb
in seiner Wohnküche besann er sich, ging zurück und kramte die Uhr
aus seiner Jackentasche, die nebenbei noch ein Päckchen Tabak,
Feuerzeug und viele abgelaufene Fahrscheine enthielt. Der Mann legte
sie auf den kleinen hellholzigen Wohnzimmertisch und kochte sich in
der kleinen Küchennische einen Kaffee. Dann ließ er sich auf das
abgenutzte Sofa, das eine Spende der Caritas war, plumpsen und drehte
sich eine Zigarette. Er nahm die Uhr hoch und betrachtete sie
genauer. Die Jagdszene auf dem runden Deckel war eigentlich nicht so
sein Ding. Ihn faszinierte das Zifferblatt, denn er konnte sich
keinen Reim auf das Material machen, aus dem es gearbeitet war.
Opalähnlich irisierend wechselte es mal in hellblau, dann wieder in
rosa – je nachdem wie man sie ins Licht hielt und … Halt! Da war
noch etwas eingraviert und zwar im Deckel. Zwei Buchstaben.
Altdeutsch. Ein S und P. War wohl derjenige dem die Uhr als erstes
gehörte, schlussfolgerte er. Er stellte sich diesen Besitzer vor. Er
trug bestimmt einen Zylinder und ein Monokel. Vielleicht war er
einmal ein Banker gewesen? Wie dem auch sei, dachte er, auf jeden
Fall konnte er dieses Kleinod weiter veräußern und er dankte dem
Flohmarkthändler, dass jener so bescheuert war und nicht erkannte,
dass das Gold der Uhr das so wunderbar glänzte … echt war. Der
verschlagene, heimtückische Blick desselbigen aber ist an ihm vorbei
gegangen…
Die Turmuhr der nervigen Kirche gleich
nebenan schlug fünf. Heute Morgen hatte der Kirchturm, der mit
lautem und grellem Gebimmel die Scheinheiligen zum Gottesdienst rief,
ihn um acht aus dem Bett geschmissen, wie jedes Wochenende. Naja, war
ihm aber egal. Er war arbeitslos und hatte auch nicht vor, daran
etwas zu ändern. Für ihn war der Staat ein reiner Ausbeuter und die
Sozialhilfe die er bezog, sah er als Schadensersatz. Hansi legte sein
erworbenes Kleinod wieder auf den wackeligen Tisch, erhob sich und
schaltete den alten Röhrenfernseher an, auch ein Geschenk der
Caritas. Dann dachte er an die Dose Fisch in Tomatensoße und als er
sie mit zwei Scheiben Toastbrot gegessen hatte, fühlte er sich
rundum zufrieden. Zu seinem Glück fehlte ihm nur noch Bier, aber das
durfte er nicht trinken, er war ein halbes Jahr trocken. Seitdem er
hier in der Bude lebte und er wusste, sollte er wieder mit dem Saufen
anfangen, hätte sich die Wohnung bald erledigt und die Straße wäre
erneut sein Zuhause und davor hatte er Panik. Der Exsäufer hatte
Angst davor wie Horst zu enden. Sein Schicksalsgefährte. Horst war
verbrannt. Erst haben sie ihm den Schädel gespalten und dann in
Brand gesteckt. Mit einem halben Liter Spiritus. Schnell dachte er an
etwas Anderes. Im Fernsehen lief grade eine langweilige Doku und
seine Augen wurde schwerer und schwerer und schließlich schlief er
tief und fest.
Ein schrilles Piepen weckte ihn. Wie?
Hatte er solange geschlafen, dass bereits das Testbild im ZDF lief?
Nee, er hörte irgendjemanden aus dem TV heraus quasseln. Trotzdem
piepte es so eindringlich, dass ihm die Ohren klingelte. Nicht laut,
aber kontinuierlich. Der Feuermelder? Quatsch, den hatte er ja
abgebaut als das Gerät anfing mit seinem Alarm selbst wenn er nur
Spaghetti kochte, das alte Scheißding. Die Nachbarn kamen runter und
hatten Sturm geklingelt. Was hatte der Penner von unten jetzt schon
wieder angestellt, fragten sie sich und waren sich über den
Asozialen im Keller einig. Er hatte es mitangehört, durch die
verschlossene Tür und war sehr betroffen darüber, dass sie wussten
wer er war. Welches Labermaul hatte da wieder seine dumme Fresse
nicht halten können, fragte er sich damals und fühlte sich
irgendwie ertappt. Stöhnend richtete er sich auf und fuhr sich mit
seinen Händen durch das schütter werdende Haar. Er war noch nicht
so alt, aber sein Vater hatte bereits mit Ende Dreißig eine
ordentliche Platte auf dem Kopf. Hatte er wohl geerbt. Er richtete
sich auf, um die Quelle des Piepsen zu suchen und stellte auch fest,
dass die Luft rosa flimmerte. Was, zum Henker …?! Nachdem er den
Fernseher ausschaltete, weil er sehen wollte woher das Licht kam, sah
er auf den Tisch. Das rosa Licht kam eindeutig vom Tisch und das
Piepsen auch und zwar … von der Taschenuhr. So alt konnte die doch
dann nicht sein, wenn die so einen bescheuerten Weckruf hatte und er
war sofort derbe enttäuscht. Alt und echt Gold … Das hätte ihm
eine Stange Geld eingebracht, jetzt konnte er nur noch auf das Gold
setzen. Vielleicht war der Stempel, der das Material als Gold
auswies, auch nicht echt? Vielleicht war er, Hansi, der Depp und
nicht der Verkäufer vom Trödelmarkt? Er nahm die Uhr vom Tisch auf
und öffnete sie. Was er dann sah, veranlasste ihn, das Schmuckstück
auf die Couch zu werfen. Wie vom Donner gerührt stand er zunächst
da und schüttelte ungläubig den Kopf, nein, das kann nicht sein,
schlief er noch und träumte? Er schlug sich auf die Wange und spürte
den Schmerz. Nee, er war wach. Langsam und zögernd begab er sich zum
Sofa und nahm den Zeitmesser vorsichtig hoch, so, als wäre er heiß
und er könne sich die Finger daran verbrennen. In Zeitlupe öffnete
er den Deckel und schaute ängstlich noch einmal genauer hin. Und
tatsächlich! Hinter dem Ziffernblatt, das jetzt die Struktur eines
Fensters hatte, sah er einen Menschen. Ein kleiner Mann in
Miniaturformat, der verzweifelt gegen das Ziffernblatt trommelte und
irgendwas schrie. Der eindringliche Piepton war verstummt, sobald er
den Deckel hatte hochspringen lassen. Oh mein Gott, was soll die
Scheiße? dachte er entsetzt und zweifelte an seinem Verstand. Er
fragte mit rauer Stimme in die Uhr, wer der Mann sei. Dieser schrie
nur in einer unverständliches Sprache irgendetwas. Dann erinnerte
sich der ehemalige Obdachlose an eine Lupe, die er irgendwann einmal
im Herbst auf einem Sperrmüllhaufen gefunden hatte und rannte in die
Küche, um sie zu holen. Damit bewaffnet sah er wieder auf das
Ziffernblatt und konnte mit Hilfe der Vergrößerung sogar die
Gesichtszüge des Unglücklichen erkennen, der voller Verzweiflung
jetzt weinte. Der neue Besitzer schrie in die Uhr, was er denn tun
solle und während er das schrie, begannen zarte Töne zu erklingen.
Eine wunderschöne Musik formte sich aus den Klängen und durchdrang
das ganze schäbige Apartment. Der junge Mann beruhigte sich
zunehmend und lauschte nur dieser Musik, die an Klassik erinnerte,
aber fremd klang und schön … atemberaubend schön. Und plötzlich
fand er das gar nicht mehr so ungewöhnlich, dass ein kleiner Mensch
hinter dem Ziffernblatt seines Kleinodes verzweifelt schrie. Mehr
noch, er spürte einen unwiderstehlichen Drang, ihm Gesellschaft zu
leisten. Was gäbe es schöneres, als in der Uhr zu leben? Für
immer. Er kicherte ausgelassen. Und während er kicherte, färbte
sich der rosa Glanz im Zimmer blau und er bekam das Gefühl als
schrumpfe er. Er wurde kleiner und kleiner und während seine Größe
sich verringerte, zog es ihn in die Uhr hinein. Jetzt lachte er irre.
Sein neues Leben konnte beginnen.
Die Möbelpacker holten die letzten
Kisten aus der Kellerwohnung und der Gerichtsvollzieher zusammen mit
dem Vermieter beobachteten den Schlüsseldienst, der ein neues
Schloss in die Haustür einbaute. Ich vermiete nie wieder an
ehemalige Obdachlose, erklärte der Hausbesitzer, einfach nicht
zahlen und dann abhauen.
Die junge Frau stand unentschlossen an
der Theke des Trödelhändlers und wog die Taschenuhr abschätzend in
der Hand hoch und runter. Dabei hatte sie ihr hübsches Gesicht in
nachdenkliche Falten gelegt. Der alte, ungepflegte Mann betrachtete
sie mit halb geschlossenen Augen heimtückisch. Eine Frau. Eine Frau
fehlte ihm noch in seiner Sammlung. In der Tat … Samuel Pillerstone
lächelte zahnlos in sich hinein.
Waldmannsheil
Der
Jäger strich mit seinem Hund durch den duftenden Wald. Die gelben
und roten Blätter des Herbstes erzeugten ein Rascheln auf dem
weichen Waldboden, wenn man drüber ging. Er und Luchs, der kleine
kecke Jagdhund, hatten schon seit Tagen die Fährte eines
Wildschweins, was den Spuren nach zu urteilen ein mächtiges
Wildschwein sein musste, im Visier. Vielleicht war es auch das Tier,
das für die Verwüstungen in den umliegenden Gärten verantwortlich
war, auch weil auch keine Zäune ein Hindernis darstellte, denn die
waren eingedrückt. Der Mann im schmucken Grün verzichtete darauf,
wieder auf den Hochstand zu klettern, um dann stundenlang zu warten,
nein, er wollte es suchen, es finden. Und so verging Stunde und
Stunde mit Herumschleichen im Wald als Luchs plötzlich stehen blieb
und witternd seine Schnauze in die Höhe streckte. Dann begann er mit
seinem kurzfelligem Stummelschwänzchen zu wedeln und der Jäger
fragte, unwillkürlich flüsternd: “Gute Junge, hast du was?“
Luchs fiepte leise und sein Herrchen machte die Leine los. Wie eine
Gewehrkugel schoss Luchs ins Dickicht, sein Herrchen kam kaum
hinterher. Vor einer dichten Brombeerhecke stoppte der Hund und lief
aufgeregt hin und her. Offensichtlich suchte er nach einem Weg, denn
das Gewächs war breit und wuchs wild eine ziemliche Strecke lang. Es
dämmerte auch bereits, aber der Jäger wollte jetzt nicht
sprichwörtlich die Flinte ins Korn werfen, er war so nah dran. Und
plötzlich vernahm er das Grunzen und ein Scharren und noch Grunzen.
Luchs erstarrte. Bellen durfte er nicht, das wusste der Hund aus dem
Training heraus. Dem Jäger schoss das Adrenalin in den Kreislauf
und sein Herz begann wild zu pochen. Wie, verdammt, kam er jetzt um
die Hecke? Es half nichts, er musste Drumherum gehen.
Kurzentschlossen schulterte er das Gewehr und leinte seinen Hund
wieder an. Möglichst lautlos schlich er an den Brombeeren vorbei, er
schätzte, dass die Hecke so an die zwei Hauslängen ausmachte und
fluchte innerlich. Als er endlich vorbeigegangen war, schaute er
vorsichtig um das Gestrüpp herum und zu allem Übel blieb er mit
seiner Feldtasche hängen. „Meine Güte!“, fluchte er innerlich
und machte sich mit einem Ruck genervt los. Dann vernahm er erneut
das Grunzen, es klang näher und sehr tief und endlich sah er das
Wildschwein. Sie standen sich praktisch gegenüber. Luchs regte sich
fürchterlich auf und begann aggressiv zu bellen. Er zerrte wie
verrückt an seiner Leine und der Mann fluchte recht derbe. „Luchs!
Aus!“, zischte er, doch das half nichts und das kannte er nicht von
seinem Hund. Er wickelte die Hundeleine aus Leder dreimal fest um
seine Hand und schaute erneut in zu dem Keiler hin. Dieser stand ganz
still einige Meter von ihnen entfernt und schaute den Mann und den
Hund mit kleinen Äuglein starr an. In so einer Situation hatte er
noch nie gesteckt. Die Flinte auf der Schulter tragend und einen
völlig aufgelösten Hund an der Leine vor einem Jagdtier und er
fühlte sich einen Moment lang überfordert. Es half nichts, er
musste Luchs loslassen, sonst würde er in einer Stunde noch hier
stehen. Mit einer kurzen Bewegung entwickelte er Luchs von
seinem Handgelenk und ließ ihn los. Dieser stürzte sich wild
bellend und knurren auf das Wildschwein, das überhaupt keine
Anstalten machte zu flüchten. Es stand einfach nur abwartend da und
der Jäger bemerkte jetzt erst, wie mächtig es war. Mindestens ein
halbes Mal so groß und schwer und wie ein gängiges Tier. Wahnsinn,
dachte er und ließ schnell seine Waffe von der linken Schulter
rutschen. Nur noch entsichern und anlegen, dachte er, einen präzisen
Schuss zwischen die Lichter und das war es. Ein jämmerliches Jaulen
fuhr ihm durch Mark und Knochen. Luchs! Er sah auf und suchte seinen
Hund mit den Augen und als er ihn entdeckte, war es auch schon zu
spät: der Keiler rannte wuchtig auf den Mann zu. Dieser legte hastig
sein Gewehr an, aber viel zu spät und so traf ihn der Kopf des
Tieres mit voller Wucht. Bevor er aufschlug, sah er zwei riesige
Hauer über sein Gesicht schweben und irrational dachte er, wie schön
er sie fand. Gleichzeitig hörte er das gepeinigte Weinen seines
Hundes und roch den stinkenden, dampfenden Atem dieses Monsters in
Schweinegestalt. Die Hauer waren auch das Letzte, das er bewusst wahr
nahm, dann wurde es dunkle Nacht um ihn.
Der Suchtrupp durchkämmte systematisch das Jagdrevier des verschollenen Jägers. Eine Meute Hunde lief bellend und lärmend voraus, die sieben Männer hetzten hinterher. Eine Woche waren sie jetzt in dem dichten Mischwald auf der Suche nach Siegfried, den man seit Tagen vermisste. Und man hatte beschlossen, dass heute die Suche eingestellt würde, da man nicht mehr mit einem Auffinden des Mannes rechnete. Man hatte sich durch das Dickicht gekämpft, sich etliche Kratzer an wildwachsenden Dornengestrüpp zugezogen und auch die Luft und die Motivation war raus. So hechelte man den Hunden hinterher, die der aufgenommenen Spur kreuz und quer durch den Wald folgten. Die Männer rannten und das Hundegebell bewegte sich nicht weg, sondern wurde lauter. Als man es erreichte, wuselte Rudel vor einer dichten und ziemlich langen Brombeerhecke erregt herum. Ratlos stand man einige Zeit da und dachte darüber nach, ob Siegfried tatsächlich durch die Hecke ist. Das verwarf man, denn die machte einen unversehrten Eindruck. Schön hochgewachsen und auch kein Loch am Boden, das ein Hund gegraben hatte. Vielleicht war der Jäger doch Zigaretten holen, witzelte man, seine Alte ist aber auch vielleicht ein bösartiger Drache. Man lachte und rauchte darauf noch genüsslich eine Kippe und kehrte um. Die Suche war gelaufen, im Wald war ihr langjähriger Kumpel jedenfalls nicht und so kehrte man um, ärgerlich darüber, dass sich die Hunde nicht beruhigen ließen …
Hinter der Hecke rief der schwer verletzte Mann lautlos um Hilfe. Seine Beine waren zerquetscht und an seiner Stirn durchzog eine lange Wunde die wettergegerbte Haut. Er war bereits zu schwach und seine Stimme war erloschen, vom vielen Rufen nach Hilfe … als noch kein Retter so nah war wie eben …
Der Suchtrupp durchkämmte systematisch das Jagdrevier des verschollenen Jägers. Eine Meute Hunde lief bellend und lärmend voraus, die sieben Männer hetzten hinterher. Eine Woche waren sie jetzt in dem dichten Mischwald auf der Suche nach Siegfried, den man seit Tagen vermisste. Und man hatte beschlossen, dass heute die Suche eingestellt würde, da man nicht mehr mit einem Auffinden des Mannes rechnete. Man hatte sich durch das Dickicht gekämpft, sich etliche Kratzer an wildwachsenden Dornengestrüpp zugezogen und auch die Luft und die Motivation war raus. So hechelte man den Hunden hinterher, die der aufgenommenen Spur kreuz und quer durch den Wald folgten. Die Männer rannten und das Hundegebell bewegte sich nicht weg, sondern wurde lauter. Als man es erreichte, wuselte Rudel vor einer dichten und ziemlich langen Brombeerhecke erregt herum. Ratlos stand man einige Zeit da und dachte darüber nach, ob Siegfried tatsächlich durch die Hecke ist. Das verwarf man, denn die machte einen unversehrten Eindruck. Schön hochgewachsen und auch kein Loch am Boden, das ein Hund gegraben hatte. Vielleicht war der Jäger doch Zigaretten holen, witzelte man, seine Alte ist aber auch vielleicht ein bösartiger Drache. Man lachte und rauchte darauf noch genüsslich eine Kippe und kehrte um. Die Suche war gelaufen, im Wald war ihr langjähriger Kumpel jedenfalls nicht und so kehrte man um, ärgerlich darüber, dass sich die Hunde nicht beruhigen ließen …
Hinter der Hecke rief der schwer verletzte Mann lautlos um Hilfe. Seine Beine waren zerquetscht und an seiner Stirn durchzog eine lange Wunde die wettergegerbte Haut. Er war bereits zu schwach und seine Stimme war erloschen, vom vielen Rufen nach Hilfe … als noch kein Retter so nah war wie eben …
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